Feminismus ist blöd

Kannst du dir vorstellen, deinem Arbeitgeber ein Schreiben mit der Unterschrift deines Mannes vorzulegen, in dem steht, dass dein Mann es dir erlaubt, erwerbstätig zu sein? Nein? War aber in den 1970ern in Österreich noch gesetzliche Realität. 
Vieles, was wir Frauen heute für selbstverständlich halten – Wahlrecht, selbstbestimmte Sexualität, selbstbestimmte Kinderplanung, höhere Bildung, Erwerbstätigkeit, Unabhängigkeit und Beziehungen auf gleicher Augenhöhe – wurde von einer bestimmten Personengruppe erkämpft: den „frustrierten Männerhasserinnen, die überall ihr Binnen-I* draufdrücken“. Auch Feministinnen genannt. Denen dürfen wir dankbar sein, dass wir uns heute in Österreich meist „nur“ noch mit Alltagssexismus herumschlagen müssen.
Das sind alles Errungenschaften, die auch in die „Männerwelt“ positiv rüberschwappen.
Mit dem Begriff „Feminismus“ sind heute viele unzufrieden, weil sich das Konzept ja längst auf alle Geschlechter ausgeweitet hat und weil er immer noch die falsche Vorstellung „Frauen gegen Männer“ weckt.
Das mit dem Patriarchat wird auch oft missverstanden. Es geht da nicht um die bösen Männer. Es geht um ein personenunabhängiges System, unter dem Männer wie Frauen (und alle dazwischen) jeden Alters leiden. Und deswegen wehren wir Männer und Frauen uns gemeinsam gegen Mist, den wir nicht wollen. Auf gleicher Augenhöhe, versteht sich.
Männer sind genausowenig wie Frauen scharf drauf, sich Dinge vorschreiben zu lassen, nur weil sie ein Mann oder eine Frau sind. Männer wollen in Karenz gehen und ihre Kinder aufwachsen sehen, sie wollen Karriere machen, sie wollen Techniker und Kindergärtner werden, sie wollen stark und schwach sein dürfen, sie wollen guten Sex, ein zufriedenes Leben und glückliche Menschen um sich herum. Genau wie Frauen auch. Vielleicht will nicht jeder Mann das gleiche, aber das will ja auch nicht jede Frau. 
Ich denke, jeder Mensch möchte selbstbestimmt und zufrieden leben und Feminismus hilft da definitiv weiter. Und zwar Männern wie Frauen.
Dass Feministinnen frustrierte fette Kampflesben sind, ist ein Bild, das von Menschen erzeugt wurde, die vom Patriarchat super profitieren. Das schreibe ich so, weil das eben nicht nur Männer sind (Männer aber die meisten Privilegien durch das Patriarchat erhalten bzw. erhalten haben). Wenn dann welche daherkommen und auch vom Kuchen mitnaschen wollen (Feminstinnen zB), man den Kuchen aber für sich allein haben will und die Kuchenbedrohung nicht einfach erschießen kann – na, dann macht man sie eben schlecht. Das ist vielen nicht bewusst, weil es eben nicht immer offen und bewusst abläuft und sich gerne mit dem „ganz normalen“ Alltagssexismus mischt.
Dieses falsche Bild, das in den Köpfen der Menschen drin ist führt dann auch gern zu Sätzen, die so beginnen: „Ich bin keine Feministin, aber…“.
Aber ich möchte wählen können ob ich Karriere mache, Hausfrau und Mutti bin oder beides. Aber ich möchte guten Sex und ich möchte selbst entscheiden, ob, wann und mit wem ich Sex habe und ob daraus evtl. ein Kind entstehen soll. Aber ich möchte meinen eigenen Körper gut finden können, wie er ist. Aber ich möchte einen Partner, der mir auf gleicher Augenhöhe begegnet. Aber ich möchte nicht, dass mich jemand ungefragt angrapscht. Aber meine Kinder sollen sich frei entwickeln können und ihre wahren Talente finden. Aber ich hab keine Lust auf ein abwertendes Frauenbild. Aber ich möchte nicht weniger verdienen als mein Kollege. Aber ich möchte eine gute Work-Life-Balance und ich möchte, dass mein Partner mir dabei hilft. 
Was soll dieses ständige Kuschen und Anbiedern, diese ständige Angst, man könnte plötzlich fünf Meter lange Achselhaare bekommen? 
Liebe Leserin, wenn du dich öfters dabei ertappst, Sätze in dieser Art zu beginnen, um ihnen feministische Errungenschaften oder Forderungen folgen zu lassen, ist es – Huch! – nicht unwahrscheinlich, dass du dem Feminismus näher stehst, als du denkst!
Du musst dich wegen meinem Blogbeitrag nicht gleich als Feministin oder Feminist bezeichnen, oder alles im Feminismus gut finden. Kritisch und selbstbestimmt sind keine Attribute, die sich auf Feministinnen und Feministen beschränken. 
Aber bevor du das nächste Mal denkst, Feminismus ist blöd (oder „Ich bin keine Feministin, aber…“) – denk lieber nochmal genauer drüber nach und informiere dich bei Unklarheiten.
*Die Theorie hinter der Sache mit dem Binnen-I ist übrigens die, dass Sprache das Denken bestimmt oder zumindest beeinflusst (Studien mit Taubstummen und so). Es kommt ja auch nicht von ungefähr, dass in unschönen Diktaturen Sprache dahingehend verändert wird, dass Begriffe verboten werden oder durch verwässerte, euphemistische ausgetauscht, um die Machtposition des Diktators gegen Systemkritik abzusichern.
Frauen waren immer unsichtbar. Nenne mir mal eine Komponistin des 18. Jahrhunderts! Fällt dir keine ein, was? Oder eine Naturwissenschaftlerin des 19. Jahrhunderts? Wenn du daraus fälschlicherweise schließt, dass es dann wohl keine gegeben hat, bist du genau am Problem der Sache mit der Unsichtbarkeit. Mit der Sprache hat man versucht, Frauen sichtbar zu machen. Und ganz ehrlich: Du kannst das Binnen-I lästig finden oder wichtig – allein durch die Diskussion darüber hat es seinen Zweck schon erfüllt. (Man muss aber das Binnen-I nicht zwingend gut finden, nur weil man Feminismus gut findet 😉 Feminismus ist viel mehr als nur das Binnen-I)

PS: Fortgeschrittene FeministInnen mögen mir den heteronormativen Schwerpunkt verzeihen. Sprengt sonst Länge.

Vom Selbstbestimmungsmuskel

Seit ich meinen alkoholfreien Blogeintrag geschrieben hab und Lunalesca von ihrem Lin-Chi-Projekt berichtet, ist mir plötzlich aufgefallen, wie viele Leute eigentlich (dieses Mal) lieber keinen Alkohol trinken würden. Sie bestellen ihn trotzdem, weil es zum Fortgehen dazugehört, weil alle anderen auch Alkohol trinken oder weil es zu ihrem Image, ihrem Beruf oder ihrer Geschlechterrolle gehört.

Oder ist es bei dir etwas anderes? Ist es das Schminken, das du nur tust, weil du das Gefühl hast, es wird von dir verlangt? Isst du nur Fleisch, weil Gemüse was für Mädchen ist? Rasierst du dir die Beine im Winter nicht, aber tust dir die Prozedur zähneknirschend an, wenn es jemand sehen könnte? Postest du auf Facebook, obwohl es dich anödet? Hältst du Diät, obwohl du dich mit ein paar Kurven eigentlich genauso gut oder besser finden würdest? Schaust du das Fußballmatch nur, um am nächsten Tag mitreden zu können?

Ich sag dir jetzt die Wahrheit:

Du hast die Wahl.

Du hast die Wahl, deine Achseln zu rasieren oder nicht. Du hast die Wahl, als erwachsener Mensch Alkohol zu trinken oder nicht. Wenn dir der Urlaub ohne Kamera mehr Spaß macht, dann dürfen deine Erzählungen ausreichen. Du darfst Widersprüche in dir vereinen und du darfst Dinge anders machen als die anderen.
Was du magst, tust und findest, bestimmst immer noch du selbst!

Es wäre natürlich schön gewesen, wenn einem das mal jemand zu Beginn der Pubertät gesagt hätte oder wenn einen auch jetzt noch jemand manchmal dran erinnern würde.
Du und ich, wir sind Menschen und wir leben nicht in einem sozialen Vakuum. Die eine Wahl ist erwünschter als die andere, das heißt aber nicht, dass es keine Alternativen gäbe. Du hast ein Recht auf Alternativen, nur wird das niemand für dich aushandeln. Der Widerstand gegen soziale Normen und Gruppendruck muss also trainiert werden wie ein Muskel – unser Selbstbestimmungsmuskel.
Klar gibt es Bereiche, wo sozialer Druck gut ist, damit wir uns nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen oder damit wir anderen helfen. Aber unrasierte Beine zu haben oder kein Bier zu mögen tut niemandem weh.

Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es gar nicht auffällt, wenn du etwas nicht tust!
Du wirst vielleicht gar nicht glauben, wie viele Menschen in deinem Umfeld etwas ebenfalls nicht tun, überhaupt kein Problem damit haben, wenn du etwas nicht tust – oder es wider Erwarten sogar genial finden!


Eine kleine Trainingseinheit für den Selbstbestimmungs-muskel


Bleiben wir mal beim Alkohol.
  1. Warum tust du es? – Setz dich hin und überlege dir in Ruhe, warum du Alkohol trinkst. Ob du ihn überhaupt magst, in welcher Form, wann, wieso. 
  2. Probiere es mal ohne. – Heute abend ist dein erstes Getränk alkoholfrei. Unangekündigt und unkommentiert.
  3. Beobachte.– Fällt es jemandem auf? Wird es zum Tischgespräch? Hast du das Gefühl, dich rechtfertigen zu müssen? Fühlst du dich wohl, komisch, ungewohnt, befreit?
  4. Ziehe es durch. – Es soll nicht zur Qual werden, aber wirklich interessant wird es nur, wenn du es tatsächlich durchziehst. Die anderen sind schon besoffen, du nicht. Wie fühlst du dich? Hast du Spaß? Bist du genervt? Merken es die anderen überhaupt noch?
  5. Backup. – Hab einen „Notfallknopf“ parat, mit dem du jederzeit das Experiment abbrechen kannst, wenn es zur Qual wird.
So oder nach deinem Geschmack abgewandelt kannst du (gerne erstmal in einem geschützten Rahmen) erste Erfahrungen damit sammeln, wie es sich anfühlt, auf gesellschaftliche Konventionen zu verzichten, auf die du in Wahrheit gar keine Lust hast. Vermutlich gar nicht mal so schlecht 😉

Das Wesentliche an der Sache ist, Dinge nur dann zu tun, wenn du und nur du allein darauf Lust hast und zu lernen, auch gegen den Strom zu schwimmen, wenn es sich richtig anfühlt. Dinge zu hinterfragen (auch das andere Extrem), dein Wohlfühlmaß zu finden, aber auch Extreme zu testen und Kompromisse eingehen zu können. Manchmal wird nur Konsequenz akzeptiert („Aber geh, dann kannst du heute ja wohl eine Ausnahme machen!“), oder Konsequenz fällt uns selbst leichter. Nicht jeder ist begeistert, wenn sich die Freundin die Achseln nicht mehr rasiert 😉 – aber erstaunlich viele haben unerwarteter Weise damit gar kein Problem!


Hast du schon gesellschaftlich erwünschte Verhaltensweisen aufgegeben, reduziert, adaptiert oder doch wieder gemacht? Kennst du noch anderes, was „man halt so macht“, weil es „alle machen“?

Kosmetik, minimalistisch: Duft

Ich habe mir versehentlich das Duften abgewöhnt.

Als ich mit 17 Neurodermitis bekam, musste ich auf duftfreies Allergikerwaschmittel umsteigen. Schon nach ein paar Monaten fand ich Waschmittelgeruch seltsam. Mit 19 stieg ich auf Naturkosmetikprodukte um, die meist milder und natürlicher beduftet werden und fand bald den Geruch konventioneller Produkte nicht mehr gut. Vor zwei Jahren habe ich schließlich einige Monate lang das Waschen mit Lavaerde (die ja nach nichts riecht) ausprobiert.

Seither ekelt es mich vor fast allen Düften in Kosmetik. Oft wird mir sogar übel oder ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich die Gerüche längere Zeit in Gesichtsnähe habe.

Zum Glück gibt es parfümfreie Produkte zu kaufen. Beispiele für Firmen, die solche Produktlinien anbieten sind Balea, Alverde, Seba med, Logona und Lavera – und im Internet findet man noch viel mehr.

Es ist aber nicht nur das Fehlen des Geruchs, das mich entzückt. Parfümfreie Kosmetik erhellt mein Herz auch durch das reduzierte Produktangebot (meist gibt es ein Schampoo, eine Tagescreme usw), das oft puristische Design und die meist kurzen Inhaltsstofflisten (da im Zielpublikum Allergiker und sehr sensible Häute sitzen).

Parfümfreie Kosmetik: Kein Duft, wenige schlichte Inhaltsstoffe, cleanes Design und eine überschaubare Produktpalette – puristisches Herz, was begehrst du mehr?

Übrigens ist auch meine selbstgemachte Kosmetik parfümfrei. Meist verwende ich sogar extra desodorierte oder raffinierte Öle und Fette. Kokosöl beispielsweise riecht mir nativ schon zu stark, so sensibel ist meine Nase geworden!

Ich frage mich, warum eigentlich immer alles nach etwas riechen muss. Scheinbar ist es nicht erlaubt, wenn Dinge und Personen einfach nach Mensch, nach Wiese, nach Holz oder nach Regen riechen. Ironischerweise imitieren Raumsprays, Duftkerzen und Kosmetik meist „die Natur“ in ihren Gerüchen. Eigentlich absurd, oder?

Ich habe in einem Buch etwas gelesen, das mich sehr nachdenklich gemacht hat. Es ging in diesem Abschnitt um einen Briten, der in den 1950ern als Kind in einem afrikanischen Stamm sozialisiert und plötzlich eingefangen und zurück nach Großbritannien gebracht wurde.

Now he had to bathe with soap, „an offensive smell“ which was alien and disorienting and distanced him from „the smell of being“. „Once you start using soap,“ he said woefully, „you lose your sense of smell. You can’t smell what grass it is. You can’t smell what time of the day it is. Finally,“ said Tony after a pause, „you adapt.“ (Susie Orbach: Bodies, S. 29)

Kosmetik, minimalistisch: Erfolge und Misserfolge

Als Anregung für euch, selbst herumzuexperimentieren!

Erfolge

Multitasker – weniger Zeug, das herumsteht
  • Haarschampoo = Duschgel
  • Haarbalsam = Rasiergel
Inhaltsstoffminimalismus
  • Wollfett/Lanolin als Lippenpflege
  • nur noch mit Wasser duschen (außer Achseln) 
  • DIY Deocreme aus 3 Zutaten (Natron, Sheabutter, Mandelöl)
  • unbeduftete Produkte
Verzicht auf Produkte, Produktgruppen und Anwendungen – weil ich sowieso keine Lust drauf hab
  • kein Parfum
  • kein Makeup (kleine Ausnahme: gelegentlich Augenbrauenstift und getönten Lipbalm)
  • kein Nagellack
  • kein Deo (im Winter)
  • im Winter rasiere ich mir nur alle paar Wochen die Beine
  • meine Haut creme ich nur bei Bedarf ein und auch nur die betreffenden Stellen
  • ich dusche nicht täglich (und stinke trotzdem nicht)


Fails

Multitasker
  • 1 Creme für den ganzen Körper (Gesicht und Körper wollen leider Verschiedenes)
  • Haarschampoo = Gesichtswaschgel (zu stark fürs Gesicht) 
  • Deo = Zahnpasta (Wenn man Natron alleine als Deo nimmt, geht das tatsächlich, aber s.u.)
Inhaltsstoffminimalismus
  • Gesicht nur mit Wasser reinigen (trocknet meine sensible Haut aus)
  • Haare nur mit Wasser reinigen (dafür ist meine Kopfhaut zu fettig)
  • Lavaerde und Natron zum Haarewaschen (durchwachsene Ergebnisse, Patzerei)
  • Öl auf die feuchte Haut statt Creme (in meine Haut zieht nicht mal das leichteste Öl ein)
  • Natron alleine als Deo (gute Wirkung aber mit Fett vermischt ist die Handhabung angenehmer)
Verzicht auf Produkte, Produktgruppen und Anwendungen
  • ich mag meine Augenbrauen doch gezupft lieber und mit glatten Achseln brauche ich meistens kein Deo
  • komplett ohne Cremes geht es nicht, obwohl meine Haut meistens nichts braucht
  • ohne Conditioner oder etwas vergleichbares geht es bei meinen langen Haaren auf Dauer nicht
  • Gelegentlich verwende ich einen Augenbrauenstift und einen getönten Lipbalm, genau genommen bin ich daher nur zu 99% make-up-frei 😉

Mein zahlenmäßige Ergebnis ist übrigens:


2 Schampoos, 2 Haarspülungen, 1 Seife fürs Waschbecken, 1 Reinigungsfluid (Gesicht), 1 Körperbutter, 1 Gesichtscreme, 1 Deocreme, 2x Lippenbalsam (1x getönt), 1 Augenbrauenstift, 1 Zahnpasta.

Und vermutlich ginge noch weniger 😉 
(zB: 1 Dusch-Schampoo, 1 Creme, 1 Deo, 1 Zahnpasta.)

Ich habe manchmal eine Weizenwampe.

Als tendenzvegane Vegetarierin mit Sojaallergie greift Madame Materialfehler gerne auf Fleischersatz auf Weizenglutenbasis zurück und wird meist mit einem Kugelbauch belohnt (glaubwürdiges sechstes Schwangerschaftsmonat). Vielleicht hat Weizen auch mit der öfter vorkommenden dämmrigen Dösigkeit und so manchen Konzentrationsproblemen zu tun. Glutensensitiv bin ich laut Bluttest allerdings nicht.
Warum der Weizen das mit mir macht, wollte ich herausfinden und habe nun auch dem Onlinehype folgend „Weizenwampe“ von William Davis gelesen.
Mein Gesamteindruck von diesem Buch ist jedoch nicht so euphorisch wie viele Berichte im Netz – aus folgenden Gründen:

Es gibt Widersprüche und Argumentationslücken
Zuerst schreibt der Autor bzw. der Übersetzer, das Problem sei in Deutschland nicht so gravierend, da neben Weizen auch Roggen, Dinkel und Hafer gegessen wird. Später betont er, alles was für Weizen gelte, gelte für alles glutenhaltige Getreide. Äh, ja, was jetzt?
In den 1950ern waren alle Menschen schlank, steht da. Der Autor meint, das läge daran, dass damals noch kein Frankensteinweizen gegessen wurde. Dezent ignoriert wird u.a. die Tatsache, dass damals die Alltagsbewegung selbst für Schreibtischbeamte enorm war – ein paar Schlagworte: kaum/keine Haushaltsgeräte, keine Fertigprodukte (Blätterteig selbstgemacht!), kein Fernseher, kaum Autos. Meine Mutter ist 65, meine Großmutter 94, sie sind beide in bürgerlichen Familien in der Wiener Innenstadt aufgewachsen und ihre Erzählungen handeln von Waschrumpeln, unzähligen Stunden die in der Küche verbracht wurden, unglaublich schwere Rosshaarmatratzen die alle zwei Wochen gewendet werden mussten, alles wurde selbst gemacht (stricken, nähen, kochen, flicken), getrunken wurde nur Leitungswasser, wer Musik wollte musste sie selbst machen, Süßigkeiten gabs nur am Wochenende und Stubenhocken war verpönt.
Die zitierte China Study zeigt, dass Weizen zu Zivilisationskrankheiten führt, Hirse und Reis aber nicht. Trotzdem wird gleich jedes Getreide verteufelt, die Argumentationsgrundlage des Autors (Studien usw) bezieht sich aber nur auf (industrielle) glutenhaltige Getreidesorten.
Milch- und Milchprodukte sind ebenfalls dafür bekannt, (in größeren Mengen) zu Zivilisationskrankheiten zu führen. Vielleicht nicht in dem Ausmaß, wie die China Study das feststellen wollte, trotzdem müsste der Autor seiner Argumentationslinie folgend  („wenn es so viele Menschen gibt, die Gluten nicht vertragen, ist es vermutlich für keinen Menschen gesund“) auch vom Milchkonsum abraten (3/4 der Weltbevölkerung ist von Natur aus laktoseintolerant), was er aber nicht tut – was aber auch ein Themenproblem ist (wie weit kann er von seinem Weizenthema abschweifen?).

Der Autor schert alle Menschen über einen Kamm
Er schreibt hauptsächlich von kranken Menschen. Diabetiker und Schizophrenieerkrankte. Adipöse Menschen und Neurodermitiker. Zöliakie und Autismus. „Extreme“ Fälle verlangen oft nach „extremen“ Behandlungen. Warum aber Weizen auch für gesunde Durchschnittsmenschen nicht so klug sein kann, kam für mich aus dem Buch nicht wirklich heraus. Menschen sind individuell und so sollte auch ihre Ernährung sein. Vollwerternährung mit all ihrem Getreide funktioniert ja schließlich auch bei vielen Menschen gut, bei anderen wiederum gar nicht.

Es kommt wieder einmal das Paläoargument…
Das Paläoargument. Wir sind immer noch die Steinzeitmenschen wie vor 20.000 Jahren und sollten uns daher auch so ernähren. Oh Mann! Nur weil uns noch keine Teleskoparme gewachsen sind, heißt das nicht, dass die Evolution in den letzten 50.000 Jahren pausiert hat! Oder wie erklärt er sich die Tatsache, dass vor 5-7.000 Jahren plötzlich bestimmte milchwirtschaftende Völker Laktose bis ins hohe Alter verdauen konnten (obwohl das Säugetiere nach dem Abstillen nicht mehr können)? Eine Tatsache, die der gute Mann übrigens dem Leser dezent unterschlägt. Klar, als vor 10.000 Jahren der Ackerbau eingeführt wurde, war das offensichtlich nicht das Beste – nach der Eiszeit ist die Megafauna (die riesigen Viecher) ausgestorben und dann wurde es eng in der Speisekammer. Freiwillig aus Langeweile wurde jedenfalls nicht mit Ackerbau experimentiert. Die Menschen sind plötzlich kleiner geworden, immer ein schlechtes Zeichen, und früher gestorben (kann aber auch an der Sesshaftigkeit in großen Gruppen mitsamt Nutztieren gelegen haben, Stichwort Epidemien). Aber ob sich der Mensch in der Zwischenzeit an die veränderte Nahrung vielleicht doch gewöhnt haben könnte, so wie sich unsere Vorfahren an Fleisch gewöhnt haben (Zähne, Darmlänge), das wird dezent verschwiegen (und ich weiß es auch nicht). Ein Erfolgsrezept des Menschen ist jedoch definitiv, dass er mit so ziemlich jedem Futter überleben kann, von den Inuit die fast nur Tiere essen bis zu rein vegetarischen Regenwaldvölkern ist alles drin: Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch, Insekten, Getreide mit und ohne Gluten.

Der Autor kommt vom Hundertsten ins Tausendste
Zuerst ist es nur der Weizen, der problematisch ist. Dann doch alles mit Gluten. Und schließlich plötzlich doch eigentlich das gesamte Getreide. Im Endeffekt empfiehlt der Autor nicht, wie man es erwarten sollte, eine glutenfreie, sondern eine low carb Ernährung. Die, wie man weiß, nicht bei jedem Menschen (dauerhaft) funktioniert.

Mich stören generell diese ernährungstechnischen Verheißungen. Egal ob Paleo, Vollwert, Vegan, Rohkost, die traditionelle Ernährung der eigenen Kultur oder andere Formen – Ernährung wird für meinen Geschmack ein bisschen zu oft zur Religion: Ernährweise XY sei die einzig wahre, man müsse sich nur akribisch an die Regeln halten, um ewige Jugend, Gesundheit und Glück zu erlangen. Wenn man Probleme durch die Ernährung bekommt, macht man etwas falsch. Argumentiert wird meist mit der menschlichen Enwicklungsgeschichte und „der Natur“, wissenschaftliche Studien werden oft zugunsten der Ernährungsweise ausgelegt, Widersprüchliches dezent ignoriert.
Ja, auch bei diesem Buch habe ich stellenweise einen religiösen Eindruck bekommen.

Natürlich finde ich das Buch nicht durchwegs schlecht (ich versuche nur, mich kurz zu fassen). Überzüchtungen in unseren Nahrungsmitteln sind auch ganz ohne Gentechnik ein Problemfeld, dem noch viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dieses Buch wurde nicht von irgendeinem Journalisten geschrieben, sondern von einem Arzt, der mit seiner Erkenntnis schon vielen Menschen helfen konnte. Besonders Menschen mit hohem Blutdruck, Prädiabetes und ähnlichen Problemen können von den Informationen stark profitieren. Obwohl ein populärwissenschaftliches Werk, ist es voll mit fundierten wissenschaftlichen Informationen zu z.B. Blutwerten.
Ich bin auch der Meinung, dass die industrielle Landwirtschaft sich keinesfalls in eine gute Richtung bewegt, und dass unsere verkorkste Ernährung Mitschuld an vielen unserer Probleme ist.
Der Mann ist Internist und weiß, wovon er schreibt. Vielleicht ist es wegen seiner polemischen Schreibweise, dass ich seine Aussagen mehr hinterfrage als glaube.

Ich persönlich habe aus dem Buch nicht besonders viel mitnehmen können. Die meisten Probleme, die angesprochen werden, sind komplette Krankheitsbilder und treffen auf mich nicht zu (Zöliakie, Diabetes, Adipositas, Schizophrenie usw). Meine Frage, warum Weizen auch für gesunde, schlanke Menschen ein Problem sein kann, wurde für mich nicht ausreichend beantwortet.

Man darf bei der Lektüre nicht vergessen, wie komplex das alles ist. Es gibt nicht die eine böse Ursache. Viele der im Buch beschriebenen Probleme und Symptome können auch von anderen Dingen (andere Lebensmittel, andere Unverträglichkeiten, Umweltgifte, Psychosoziales, Medikamente wie die Pille, …) mitverursacht werden und tun das im Normalfall auch.

Soll man also das Buch nun lesen oder nicht? 
Ich tendiere zu „nicht notwendig“. Man kann es ruhig so machen wie Lunalesca und einfach an sich selbst testen, ob man sich ohne Weizen, ohne glutenhaltiges Getreide oder überhaupt ohne Getreide besser fühlt. Wer aber eine Argumentationsgrundlage benötigt, um Leute zu überreden, Weizenverzicht zum Wohle ihrer Gesundheit zu testen, dem sei ein Kauf vermutlich angeraten.